
Paulina Tsvetanova: Von Panikattacken und New York Fashion Week
Liebe Paulina, Du hast das Buch „Meine Freundin, die Panikattacke“ geschrieben. Ist die Panik wirklich Deine Freundin?
Sie ist meine Freundin geworden, vielleicht sogar meine beste. Das Buch habe ich zusammen mit der bulgarischen Bloggerin Vanessa Videnova geschrieben, eigentlich geht es aber nicht um Panikattacken, sondern um Lebensangst versus Lebensliebe. Die Panikattacke ist eine Form davon, ein Zustand im permanenten Wandel. Sie nimmt dabei immer wieder neue Facetten an – das heißt, sie befällt einen neuen Körperteil. Zuerst war es meine Brust, dann kam das Herzrasen, der Bluthochdruck und die Stiche in die Herzgegend, dann waren es unerklärliche Pigmentflecken auf dem Bauch, dann die frühen Wechseljahre (mit 28! Hitzewallungen und schlaflose Nächte mit Panikattacken, und und und.
Paulina Tsvetanova

Paulina Tsvetanova ist eine schillernde Persönlichkeit. Die gebürtige Bulgarin hat Kunstgeschichte studiert, die Kreativagentur und Concept Gallery „Paulina’s Friends“ gegründet, designt unter selbigem Namen farbenfrohe Patchwork-Fashion und ist ausgebildete Sterbebegleiterin. Klingt nach kreativer Überfliegerin – ist auch so, hat aber auch einen dunklen Ursprung, der mit ihrer elternlosen Flucht nach Deutschland und einer massiven Essstörung zu tun hat. Ihren radikalen Lebensmut hat Paulina 2019 in ihrem Buch „Meine Freundin, die Panikattacke“ zu Papier gebracht. Heute lebt das Multitalent in Berlin – next step: New York Fashion Week.
Die Panik scheint sehr kreativ zu sein…
Tatsächlich sehe sie inzwischen als Teil meiner Kreativität, als Ventil für Mut-Geschichten. Und wenn das Herz wieder wie verrückt rast, denke ich mir: oh, da ist ja wieder was. Irgendeine Botschaft ist dahinter immer versteckt. Meist lassen sich die Botschaften erst im Nachhinein entziffern, denn wenn man nachts im Dunkeln mit einem rasenden Herzen da liegt und Angst hat, dass es jeden Moment stehen bleiben kann, hat man meist keine Muße für philosophische Gedanken und positive Interpretationen.
Wenn die Panikattacke erst da ist, geht nichts mehr. Und davor?
Der Zeitpunkt bevor die Panik eintritt, ist entscheidend. Und den spürt man ganz genau: ein undefiniertes Unwohlsein im Solarplexus-Bereich, eine verengende Spannung, so dass man anfängt flach zu atmen. Schon da muss man ansetzen: sich nur auf den Atem konzentrieren und nicht den Puls zählen. Nichts tasten, abchecken, die Kontrollzwänge stoppen, einfach nur atmen, gern den Atem zählen. Wenn man die Ausatmung verlängert, geht der Puls von allein runter. Ich denke mir oft: eine völlige Banalität! Und bin fast schockiert darüber, dass die einfachen Dinge manchmal so viel bewirken. Wenn man in der Panik selbst steckt, ist es nämlich zu spät, da kann man sich nur ergeben – und sich die Sache schönreden, damit das ganze Spiel doch irgendwie Sinn ergibt.
Kann eine Panikattacke einen Sinn haben?
Letztendlich ist es eine Chimäre. Es geht um die Frage, wie man sich fühlt. Habe ich Frieden mit mir? Oder rase ich nur von Termin zu Termin, um mich wertvoll, vollständig, anerkannt, gesehen zu fühlen. Lebe ich wirklich oder betreibe ich einen hysterischen Aktionismus? Warum sollte ich keine Panikattacken haben? Warum möchte ich um jeden Preis gesund sein? Ist Krankheit wirklich ein ungesunder Zustand? Und ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit? Wo fängt sie überhaupt an? Ich denke, sie hört auf, wenn ich mich ständig um mich selbst drehe. Der Kampf gegen die Panik ist in meinen Augen auch eine Form von Selbstoptimierung, um wieder einen „normalen“ angstfreien Zustand herzustellen. Das ist Chimäre.
Wie erlebst Du die Panikattacken?
Als ein stumm-schummriges Gefühl von geballter Angst vor dem Ungewissen, bezogen auf ein Körperteil, wo mich die Panik in Form von Hypochondrie, also Angst vor irgendeiner Krankheit, Diagnose oder einem Zustand überfällt. Aktuell habe ich glücklicherweise kaum Anfälle, in der Vergangenheit waren es aber Ängste mit dem Herzen, dem Verdauungssystem und den weiblichen Organen. Die häufigste Form von Panikattacken ist bei mir verbunden mit Tachykardie, also Herzrasen, häufig nachts kurz vor dem Schlafengehen, wenn viele Gedanken im Kopf rumschwirren, und ich nicht in den Schlaf komme. Ich kann ganze Nächte lang mit Herzrasen im Bett liegen, mir den eigenen Tod ausmalen und Angst haben, einzuschlafen, weil ich theoretisch nicht wieder aufwache. Zum Glück habe ich das ganz, ganz selten und meist ist es nicht der Rede wert.
Auch gern nach einem oder einigen Gläsern Wein, wenn man positiv aufgeputscht ist und emotional auf Hochtouren läuft. Ganz schön fies. Ich werde mit einer Panikattacke bestraft, da wo es mir eigentlich gut geht!

Du weißt also nicht, was die Attacken auslöst?
Nein, nur eine einzige Sache ist sicher: NICHTS HILFT DAGEGEN. Also akzeptiere ich die eigene Ohnmacht und gehe in die tiefe Demut vor ihr. Für mich ist das fundamentale Lebensakzeptanz, auch wenn es sich wie ein ausgelutschtes Lebenscoaching anhört. Ich muss die komplette Kontrolle über mich aufgeben, dann passiert die Magie.
Was meinst Du damit?
Ich war vor einem Jahr in Kyoto, hatte mein letztes Geld für Stoffe ausgegeben, hatte Hunger, aber keinen Cent mehr im Portemonnaie, mein Handy hatte den Geist aufgegeben und ich wusste nicht mehr, wie ich nach Hause komme … Da sah ich Geishas, ich folgte ihnen und verlief mich in einem unbekannten Viertel. Ich spürte, dass die Angst kam, doch ich war „high“ vor lauter Inspiration. Vielleicht war es nur ein Überlebensinstinkt im Zustand völliger Erschöpfung – meine Angst verwandelte sich in Inspiration. Meine Sinne waren offen, ich war wie in einer Parallelwelt. Ich wollte nicht zurück in die Realität, ich fühlte mich wie in einem Film und ich war selbst die Regisseurin, die in der Beobachterrolle alles erschuf, was gerade geschah. Ich war mit allem verbunden. Das kann die Angst bei mir auch bewirken!
Wie gehst Du mit den Angstzuständen um? Wie sehr beeinflussen sie Dein Leben?
Ich sage immer, dass ich gar nicht damit umgehen kann. Oder vielleicht sehr wohl, weil ich erkannt habe, dass ich mit ihnen leben muss. Wenn man Angst als natürlichen Zustand von sich akzeptiert, als Motor für die eigene Kreativität, Mut und sogar Überlebenswillen, dann verliert sie ihren Schrecken. Ansonsten empfinde ich sie teilweise als ganz schön belastend und neurotisch. Nein, man braucht diese Angst nicht. Wie gehe ich mit meiner Flugangst um? Indem ich fliege! Ich erzähle meist meinen Sitznachbarn offen, dass ich Flugangst habe, damit sie sich nicht wundern, wenn ich wieder am Rad drehe. Das ist meist der Einstieg in eine wunderbare Kommunikation.

Du bist als Teenager aus Bulgarien nach Deutschland geflohen. Ein kraftvoller, mutiger Schritt. Wie passt das mit Panikattacken zusammen?
Genau da liegt der Hund begraben, danke für diese Frage, liebe Tina! Ich bin sehr früh schon „entwurzelt“ worden, bin allein mit meiner Zwillingsschwester ins kalte ferne Deutschland, ohne Eltern, ohne Geld, dazu noch schwer an Magersucht erkrankt. Beide. Wir sind damals dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen, mein unterstes Gewicht betrug damals 29 kg (bei 170 cm) und kein Arzt konnte mir helfen. Meine Schwester und ich haben uns selbst geheilt, indem wir uns bewusst entschlossen, am Leben zu bleiben. „Die Panikattacke“ betrachte ich als eine ziemlich normale Spätfolge von diesem einschneidenden Trauma, das mich fast das Leben kostete. Die Angst ist dann vielleicht so ein kleines Überbleibsel, eine Erinnerung daran, wie kostbar unser Leben ist. Ein unterbewusstes Klammern am Leben, eine Suche nach der 100 % Sicherheit, nach Trost und Halt, der uns immer gefehlt hat.
Du bist so lebensbejahend und scheinst nicht so viel zu planen…
Ich tue einfach und schaue was passiert. Kein ausgeklügeltes Marketing, keine Strategie, keine langfristigen Planungen. Alles in Fluss, alles kommt, wie es kommt, und wie es sein soll. Und der Erfolg ist garantiert. So läuft meine Selbständigkeit seit dem Beginn im Jahr 2016. Ich konnte von Anfang an davon leben eigentlich, ohne zu viel Mühe.
Gratulation, gerade bist Du zur New York Fashion Week eingeladen worden.
Es fühlst sich an, als würde ich in die Zukunft fahren. Ich war noch nie in New York, so excited! Ein wenig Bammel habe ich, ob ich mit dem Tempo mithalten kann (aber hey, ich war schon mal allein in Tokio!) und ob ich die kommerzielle Highend-Fashion-Industrie nicht unsympathisch finde. Trotzdem: Ich freue mich sehr auf die NYFW dieses Jahr und meine speziell für diesen Anlass entworfene Patchwork Couture Kollektion. Es wird ein Riesenerfolg, da habe ich keine Zweifel. Davor sind auch noch einige internationale Shows geplant. Und nebenbei schreibe ich an meiner Doktorarbeit …
Du lebst Vollgas. Wie stehen diese unbändige Lebenslust und die Lebensangst zueinander?
Das eine bedingt, befruchtet, bestärkt das andere. So komisch wie es sich anhört, liegt zwischen diesen zwei Polen einer und derselben Sache eine enorme Kraft. Zu erkennen, dass man Lebensangst hat, weil man ja so am Leben hängt, weil man das Leben so sehr liebt, weil man am eigenen Leib erfahren durfte, wie fragil es ist, wie schnell es vorbeigehen kann …
Ich habe eine Lebenssucht. Wie viele Träume kann ich in mein Leben packen? Ich hoffe viele, denn es werden immer mehr! Das macht so viel positiven Druck. Zu leben. Am Leben zu bleiben! Klar, die Lebensangst soll die Lebenslust nicht verderben. Es ist ein schmaler Grat. Ich entscheide mich, mein Leben bedingungslos, kompromisslos und radikal zu leben und zu lieben, um jeden Preis. Es ist die Angst, die die unbändige Lebenslust bändigt und die unbändige Lebenslust, die die Angst zart anlächelt und sagt: „Komm, lass uns tanzen“.

Über die Autorin
Tina Molin
Arbeitet seit über 20 Jahren als Journalistin und hat sich schon mit vielen spannenden Themen beschäftigt. 1996 schrieb sie in Hamburg bereits über Techno, Tracks und DJs. Ab 2000 verfolgte sie für PRINZ das pulsierende Berliner Nachtleben. Später interviewte sie für BUNTE Prominente von Hugh Jackman bis Lady Gaga. Dann wurde sie Mutter – und plötzlich war die Lust weg. Daraus folgte der Blog Happy Vagina und das Interesse für weibliche Sexualität. Als Gründerin und Chefredakteurin von OW up! möchte sie Frauen inspirieren und motivieren, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.