
Drei Schreibabys. Wie hast Du das geschafft, Andrea?
Liebe Andrea, Deine drei Kinder waren Schreibabys. Hut ab. Wie hast Du das geschafft?
Tja, gute Frage. Mit Durchhalten. Jeden Tag nehmen wie er kommt. Mit Menschen um mich, bei denen ich auch sagen durfte, wie überfordert ich mit der Situation bin. Ich muss aber auch gestehen, dass vieles aus dem ersten Jahr mit meinen Kindern für mich im Nebel verschwindet. Ich kann mich an einzelne kleine Momente erinnern, aber tatsächlich ist vieles auch einfach nicht da. Ich kann mich dann nur an sehr viel Geschrei und Verzweiflung erinnern.
Andrea Zschocher
Andrea Zschocher ist seit über zehn Jahren freie Journalistin. Häufig schreibt die dreifache Mutter über alles, was Familien bewegt. Angefangen hat sie ihre Karriere im Bereich der Kindermedien, sie schrieb u. a. für Wendy oder die Micky Maus. Heute arbeitet sie für u. a. Stern.de und Familie.de. Außerdem gibt die Journalistin seit 2014 auf ihrem Elternblog „Runzelfüßchen“ Einblicke in das Leben mit drei Kindern. Mehr von Andrea lesen: „Nicht mehr klein und noch nicht groß“ und „Wie du dein Schreibaby beruhigst“ Und als Podcast zum Hören: „Kinderbuchleben“ über Kinderbücher und hat für Eltern immer einen guten Buchtipp parat.
Könntest Du kurz umreißen, ab wann man von einem Schreibaby spricht – und ob Du der Definition zustimmst?
Die 3er Regel sagt: Wenn ein Baby drei Stunden am Tag an drei Tagen in der Woche über einen Zeitraum von mindestens drei Wochen schreit, dann ist es ein sogenanntes Schreibaby. Nur, was nützt dieses Wissen denn den Eltern? Wenn die nach anderthalb Stunden an ihre Grenzen kommen, dann ist das doch genauso belastend. Jeder Mensch ist anders, hat eine andere Toleranzgrenze und kommt unterschiedlich gut damit zurecht.
Für mein Buch habe ich mit über 50 Eltern von viel weinenden Babys gesprochen, manche kannten die Regel gar nicht, manche hat sie bestärkt, sich Hilfe zu suchen. Ich selbst habe sie gar nicht verstanden, ich dachte immer, dass das Baby immer drei Stunden am Stück schreien muss. Dabei geht es um drei Stunden innerhalb von 24 Stunden.
Ich persönlich finde die Regel veraltet, weil sie die individuellen Grenzen von Eltern nicht im Blick hat. Aber ich schreibe Eltern auch nicht vor, ob für sie diese Regel nicht doch hilfreich ist. Wenn sie dafür sorgt, dass Eltern sich Hilfe holen, dann unterstütze ich das sehr.
Dein Buch beschäftigt sich weniger mit den Kindern, sondern mit den Eltern. Warum, war es Dir wichtig, den Eltern ein Buch zu widmen?
Weil Eltern in der Literatur und auch in den Gesprächen über untröstlich weinende Babys in aller Regel vergessen werden. Hauptsache dem Kind geht’s gut. Das hören manche Frauen auch nach der Geburt, egal was sie Schlimmes erlebt haben, alles wird abgebügelt mit „ist doch egal, Hauptsache dem Kind geht’s gut!“ Aber es ist eben nicht egal.
So eine herausfordernde, einen über seine Grenzen bringende Zeit, die macht was mit einem. Da entwickeln Eltern mitunter auch Gedanken, vor denen sie sich erschrecken. Und die müssen auch artikuliert werden dürfen. Das ist ein Tabu, mir ist vollkommen klar, dass das erschreckend sein kann, wenn Eltern sagen „Das war ein Fehler, ich bin die falsche Mutter / der falsche Vater für das Kind. Weil ich das nicht aushalten kann.“ Doch darüber müssen wir reden. Denn wenn Eltern erfahren, dass sie mit diesen Gefühlen, aber auch der Überforderung nicht allein sind, dann hat das was unglaublich Entlastendes. Zum anderen dreht sich bei der Unterstützung oft alles um die Kinder. Klar, es wird geguckt, ob denen etwas fehlt, aber auch die Eltern brauchen Begleitung. Und darauf will ich mit meinem Buch unbedingt aufmerksam machen.
Deine Babys haben bis zu 12 Stunden am Tag geschrien. Und dass ein ganzes Jahr lang. Ich weiß nicht, wie man das aushält. Was tun, wenn man kurz davor ist, die Nerven zu verlieren und das Kind nur noch schütteln möchte?
Beim ersten Kind habe ich mir immer Freund*innen eingeladen, weil das Kind dann ruhig war. Das habe ich anschließend den ganzen Abend bereut, weil die ganze Anspannung irgendwo hin musste und meine Tochter dann nur gebrüllt hat. Aber in der Zeit mit Besuch fühlte es sich halt so normal an. Weniger einsam.
Ich erzähle das, weil wir Eltern ja sehr viel aushalten und viel versuchen, bevor wir wirklich nicht mehr können. Was Eltern von Schreibabys immer tun können, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Gefühle sie überwältigen: Das Baby sicher ablegen und raus aus der Situation. Ja, das Baby schreit dann und es bricht einem das Herz. Aber alles ist besser als schütteln. Und ihr sollt ja auch nicht lange weggehen. Nur solange, bis ihr euch gefangen habt.
Ich hatte auch diesen Moment, dass ich kurz davor war mein Baby zu schütteln, damit es nur endlich ruhig ist. Furchtbar, wenn ich das so im Rückblick überlege. Aber in dem Moment konnte ich einfach nicht mehr. Meine Lösung: Meinen Mann in die Pflicht nehmen: Ihn auch mal nachts das Baby betreuen lassen. Denn natürlich neigen wir dazu den/die erwerbstätige*n Partner*in nachts zu schonen, weil der/sie ja arbeiten gehen muss. Aber für ein (untröstlich weinendes) Baby da zu sein, ist auch Arbeit, für die man fit sein muss.

Wohin schickst Du Eltern, die Hilfe mit ihrem Schreibaby brauchen?
Eltern können sich als Erstes immer mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin besprechen. Hier kann eine Überweisung zum SPZ, dem Sozialpädiatrischen Zentrum, ausgestellt werden. Das gibt es in vielen Städten und diese Zentren sind auch für Eltern von Schreibabys da.
Außerdem gibt es immer mehr Schreibaby-Expert*innen. Da kann ich nicht pauschal Empfehlungen aussprechen, denn da müssen Eltern immer auch individuell schauen, ob das für sie passt. Zum einen handelt es sich dabei oft um eine Selbstzahler*innenleistung. Eltern können aber individuell mit der Krankenkasse sprechen, manchmal haben Eltern Glück. Es kann aber auch sein, dass die Eltern sich bei den Expert*innen nicht wohlfühlen. Das ist ok. Eltern sollten da immer schauen, ob das, was passiert für sie stimmig ist.
Wenn es ganz akut ist, dann würde ich inzwischen Eltern auch in die Notaufnahme schicken. Den Tipp hat eine Expertin im Buch gegeben, ich wäre da selbst auch nicht unbedingt drauf gekommen. Aber sie meinte: Da ist immer jemand, man kann nach dem Baby schauen und die Eltern können da ihren Emotionen Raum lassen. Denn ja, wir müssen da mehr drüber reden.
Vereinsamt man als Schreibaby-Mama?
Gerade wenn das Baby auch in der Öffentlichkeit viel weint, dann scheuen Schreibaby-Eltern das irgendwann und bleiben nur noch zuhause. Weil man die ganzen ungebetenen Ratschläge irgendwann auch nicht mehr erträgt, was man nun gegen das Schreien tun kann / soll / muss.
Um aus der Einsamkeit herauszukommen, kann ich als Tipp geben: Wenn man das gut verträgt, es gibt in vielen Städten inzwischen auch Schreibaby-Treffpunkte, wo Eltern sich austauschen können.
Was uns geholfen hat: trotzdem in den Urlaub fahren. Wir dachten immer: Wo das Baby schreit, ist doch egal. Am Meer im einsamen Ferienhaus geht es uns Eltern (und den Geschwistern) aber besser. Und die Verzweiflung lässt sich auch besser ins Meer brüllen.
Wie kann man als Freund*in oder Familie helfen?
Das ist vielleicht etwas viel verlangt, aber in den Interviews haben viele Eltern gesagt: Von sich aus etwas anbieten. Wir kennen das alle, dass Freund*innen fragen: Wie kann ich dir helfen? Aber wenn da nur Gebrüll ist, dann fällt es unglaublich schwer, sich überhaupt zu überlegen, was helfen könnte. Das klingt bestimmt lächerlich, aber es ist einfach so, dass schon das überfordern kann. Mir hat eine Freundin in einer herausfordernden Zeit mal gesagt: Ich schicke dir meine Tochter als Babysitterin für die Geschwisterkinder vorbei. Erst da wurde mir klar, wie sehr mich das erleichtert hat. Allein wäre ich auf diese Unterstützung nicht unbedingt gekommen.
Wie bist Du mit Schuld- und Schamgefühlen umgegangen?
Ich war da immer recht offen und bin ganz oft auf Unverständnis gestoßen. Das hat weh getan. Und für noch mehr Schamgefühle gesorgt. Aber ich hatte auch ganz tolle Menschen um mich, die mich unterstützt haben und bestätigten, dass die Situation teilweise auch einfach Scheiße ist. Das muss man auch mal so sagen dürfen. Es ist jetzt gerade scheiße. Nicht mein Kind ist blöd, nicht mein Partner und nicht ich. Aber die Situation in der ich gerade stecke, die ist blöd. Und das darf man so sagen.
Weil mir aber ganz wichtig ist, dass Eltern diese Scham- und Schuldgefühle eben nicht in sich reinfressen, habe ich (auch) dieses Buch geschrieben. Damit sie wissen: Das ist ein Stück weit normal und kein Grund, sich noch schlechter zu fühlen. Das frisst sonst einfach zu viel Energie, die eh schon knapp ist.
Nach dem ersten Schreibaby hast Du noch zwei weitere bekommen? Entschuldige, dass ich so direkt frage: Hattest Du nicht die Schnauze voll?
Das klingt bestimmt total naiv, aber ich habe einfach nicht gedacht, dass nach einem Schreibaby noch ein zweites kommen kann. Ich dachte, dass es das nur einmal pro Familie gibt. Und nachdem wir das zweimal durchgestanden haben, dachten wir wieder: Dreimal, nee, das gibt es nicht.
Natürlich waren die ersten Jahre mit den Dreien unfassbar anstrengend. Aber ich habe auch gelernt: Ich bin nicht daran schuld, dass meine Kinder untröstlich geweint haben. Das hat tatsächlich drei Kinder gebraucht, bis ich das verstanden hatte.
Ich weiß, dass viele Eltern ihren weiteren Kinderwunsch aufgeben, wenn sie ein Schreibaby haben. Vermutlich hat uns in dem Punkt unsere Naivität einfach gerettet und deswegen wuseln jetzt hier drei wunderbare Kinder durch unser Leben.
Was hast Du von drei Schreibabys gelernt? Wie hast Du Dich verändert?
Ich weiß gar nicht, ob man so viel lernt aus dieser Zeit. Das ist natürlich so ein verständlicher Wunsch, dass man denkt: Wenn ich das jetzt durchgestanden habe, dann habe ich das und das gelernt. Ich glaube, ich habe verstanden, wie wichtig es ist, auf das Weinen von Kindern adäquat zu reagieren. Dass Dasein und Halt und Liebe geben, unfassbar wichtig für Kinder sind, auch wenn sie keine Babys mehr sind.
Mein Mann und ich haben noch mal neu (zu schätzen) gelernt, wie gut wir uns aufeinander verlassen können und, dass wir als Team eben wirklich gut zusammenarbeiten. Auch wenn natürlich immer wieder die Fetzen flogen.
Bist Du nach den Schreibabys nun absolut unerschütterlich?
Das wäre super, oder? Wenn ich jetzt sagen könnte: Diese Schreibaby-Jahre haben dafür gesorgt, dass mich nichts mehr aus der Fassung bringt. Natürlich ist das nicht so. Natürlich komme ich auch heute an meine Grenzen. Aber ich kann die dann besser kommunizieren.
Das gilt übrigens auch für übergriffiges Verhalten anderer Menschen. Weil ich mit meinen untröstlich weinenden Babys so oft ungebetene Ratschläge bekommen habe, fällt es mir heute sehr leicht, das nicht mehr anzunehmen. Das Leben mit Kindern bietet ja auch jenseits der Babyzeit noch sehr viele Möglichkeiten von Wildfremden, sich ungefragt einzumischen. Da bin ich inzwischen recht schwer zu erschüttern, ich ziehe mir diesen Schuh einfach nicht mehr an.
Kannst Du Babys noch schreien hören?
Nein. Das ist etwas, dass ich auch heute noch sehr schlecht aushalten kann. Selbst wenn ich wirklich absolut nicht für das weinende Baby zuständig bin, ich kann das kaum aushalten. Ich mische mich natürlich nicht bei anderen Eltern ein, und klarkommt es auch auf die Art des Schreiens an. Aber ja, es macht auch heute noch was mit mir.

Über die Autorin
Tina Molin
Arbeitet seit über 20 Jahren als Journalistin und hat sich schon mit vielen spannenden Themen beschäftigt. 1996 schrieb sie in Hamburg bereits über Techno, Tracks und DJs. Ab 2000 verfolgte sie für PRINZ das pulsierende Berliner Nachtleben. Später interviewte sie für BUNTE Prominente von Hugh Jackman bis Lady Gaga. Dann wurde sie Mutter – und plötzlich war die Lust weg. Daraus folgte der Blog Happy Vagina und das Interesse für weibliche Sexualität. Als Gründerin und Chefredakteurin von OW up! möchte sie Frauen inspirieren und motivieren, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.